Irgendwie habe ich grade Lust, euch eine kleine, tragische Geschichte zu erzählen:
Sie is(s)t nicht mehr...
Stellt euch vor: zwei Autos, hintereinander, vor einer Kurve, einer äußerst gebogenen Kurve... Spätabends... Ihr sitzt mit einigen eurer besten Freunde im zweiten Wagen, der andere Teil der Clique befindet sich im ersten Wagen.
DU sitzt auf dem Beifahrersitz, noch eine Tüte Pommes auf dem Schoß, ihr wart eben noch im Drive-in, und knabberst an ein paar Fritten herum.
Du siehst die Kurve langsam näherkommen, berühmt-berüchtigt in eurer Region, registrierst die dort am Straßenrand stehenden Kreuze und dass die Bremslichter am Wagen vor euch nicht angehen.
Warum bremst der nicht? Mit den 100 Sachen der Landstraße schafft man diese Kurve nicht! Der Fahrer neben dir sagt lapidar: "Der mit seiner ollen Karre, die fliegt bald ganz auseinander, die Bremslichter funktionieren auch schon nicht mehr!" Es sind nur die Lichter, die nicht funktionieren. Vorbei am 70-Schild... Wird der Wagen wirklich nicht langsamer? Vorbei am 50-Schild und mitten hinein in die Kurve...
Es waren doch nicht nur die Lichter, die nicht funktionierten; vollständiges Versagen der Bremsen.
Aus den Augenwinkeln heraus siehst du das Auto von der Straße abkommen, die Böschung hinunter; später wirst du dich oft fragen, wie oft es sich überschlagen hat, du kannst dich nur an zwei Male erinnern.
Du hast immer noch die Schachtel mit den Pommes frites auf dem Schoß, die dir langsam entgleitet...
SIE hatte noch Fritten im Mund, die sind ihr im Halse steckengeblieben... Sie hustete, schloss dabei reflexartig die Augen, und hoffte, es sei nur ein Traum gewesen, doch als sie sie wieder öffnete, stand sie oben an der Straße und blickte hinunter, auf das Auto, das nun nur noch ein Wrack war, einen großen Scherbenhaufen, einen Arm, der aus der zersplitterten Windschutzscheibe ragte und aus dem in dünnen Rinnsälen immer mehr Blut floss...
Trance... Blaulicht... Sanitäter, die hilflos fragten, ob alles okay mit ihr sei... Beruhigungsspritzen...
TOD!
Daheim von der Mutter in Empfang genommen: "Kind, du bist so blass, ess erst einmal etwas! Soll ich dir ein paar Reste vom Mittagessen warm machen; es ist noch ein bisschen Gulasch übrig, soll ich dir noch Pommes dazu machen?" Pommes... Die hatte sie eben erst... Sie aß, und ihre Freunde starben.. Pommes... Einen ihren Körper durchdringenden Würgereflex, sie schafft es grade noch rechtzeitig ins Bad... Totale Leere, sie hat gar nichts mehr in sich.
Vier Tage später die Beerdigung; in den letzten drei Tagen nur soviel gegessen, wie eigentlich nicht mal für eine Mahlzeit ausreicht. Alles Essbare erinnert an den Tod. Sie aß, und die anderen starben. Warum saß sie im zweiten Auto? Essen ist lebensnotwendig, warum konnte, durfte... sie bei diesem Unfall nur zuschauen? Es ist nicht fair: sie aß, und die anderen starben...
Im Anschluss an die Beerdigung der "Leichenschmaus", was ein Wort! ... Essen ist lebensnotwendig... Sie aß, und die anderen starben. Wer isst, überlebt. Sie schiebt den Kuchen weg... Sie isst nicht mehr...
Vier Wochen später fällt es auf... "Du isst so schlecht!" Man beginnt sich, Sorgen zu machen... Was anfangs als "Schockreaktion" gedeutet wurde, dauert inzwischen doch zu lange an?!
Blass... Nächtelang nicht mehr schlafen gekonnt haben... Augenringe... Eingefallene Wangen... - und täglich nur noch drei Äpfel und zwei Bananen. Maximal. Lügen; man habe schon bei Freunden gegessen...
Drei Äpfel, zwei Bananen - zwei Äpfel, eine Banane - nur noch zwei Äpfel, wenn überhaupt, meistens doch nur einer...
Exzessiver Sport, täglich fünf Liter Mineralwasser... Die Situation eskaliert.
Nach vier Monaten: beim Fitnesstraining zusammengebrochen... Wieder Trance, wieder Blaulicht, wieder Sanitäter; aber diesmal ist sie es, die im Krankenwagen abtransportiert wird; am Ziel?
Zwangsernährung, eingesperrt in der geschlossenen Abteilung, sie wehrt sich, will sich die Infusionsschläuche aus dem Körper reißen. Ans Bett gefesselt. "Es ist zu deinem Besten, Kind, du bringst dich sonst um!" Ständig sitzt ein Psychologe bei ihr, Nervensägen! Alle keine Ahnung, sie sollen sie doch in Ruhe lasse, sie weiß, was sie tut; ihr geht es gut!
Zwangstherapie...
Sie wird 18, Eigenverantwortung, sie darf selbst entscheiden - und sie bricht ab.. Bricht aus aus der Klinik und erbricht das Frühstück, das sie vor zwei Stunden noch mit den anderen Patienten - alle krank, sie ist die einzige Gesunde - einnehmen musste.
Vor der Therapie ist nach der Therapie...
In einem Jahr isst sie nur noch an jedem zweiten Tag einen Apfel, vollkommen ausreichend!
Als sie aß, starben die anderen; sie will nicht mehr essen, sie will keine Leute mehr sterben sehen, einige ihrer besten Freunde... Sie hatten es verdient, zu leben, also warum? Und warum saß sie im zweiten, technisch einwandfreien Auto? Glück im Unglück? Ist das Glück? Seine Freunde sterben zu sehen... während man isst? Zweifel, quälende Fragen, sie isst nicht mehr.
Sie will es nicht nur nicht, sie kann nicht mehr essen: beim Anblick von Fleisch denkt sie an totes Fleisch, Gemüse sind matschige Körper, flüssige Desserts ausblutende Leiber...
In zwei Jahren wird sie acht Therapien innerhalb der ersten beiden Wochen abgebrochen haben; eine neunte wird sie nicht beginnen können. Fünf Wochen nach dem letzten Therapieversuch gibt ihr Körper auf, Herzversagen, mit 21 Jahren auf dem Rücken und 34 Kilo auf den Rippen; 1,73m groß.
Sie ist nicht mehr...